Sukes (Deutsch)

Laubhüttenfest - Sukes

Am Tag nach dem Versöhnungsfest warten wir auf einen Boten Gottes. Wahrhaftig, nach all unseren Gebeten und Tränen müßte er nun wirklich kommen!

Da fährt ein mit Tannenzweigen beladener Wagen in den Hof. Der Fuhrmann kippt ihn um, und die stachligen grünen Zweige fallen heraus, ein ganzer Berg.

Der Hof verwandelt sich in einen Wald. Es riecht nach Harz und nach Tannen. Die Zweige sind kühl und frisch wie nach dem Regen. Sie liegen gleich großen, ruhenden Vögeln da, und ein starker Duft steigt von ihnen auf wie ein Lied.

Wenn man auf diesen grünen Hügel klettert, ächzt und kracht er und gibt unter den Füßen nach, und wenn man darauf schaukelt, stürzt er fast zusammen.

"Warum hüpfst du auf den Zweigen herum?" schreien meine Brüder. "Glaubst du vielleicht, es sei ein Heuhaufen? Das ist doch für die Laubhütte!"

Sie ziehen die Äste unter meinen Füßen heraus. Jeder Zweig läßt sich nur schwer vom Boden heben und zittert mit allen Nadeln.

Ich helfe die Tannenzweige in die Hütte tragen. Sie ist noch nicht fertig. Nur die Bretterwände sind aufgestellt und zusammengenagelt, aber das Dach ist noch offen, der Himmel schaut herein. Meine Brüder klettern auf Leitern hoch, stellen sich auf Stühle, reichen einander die Zweige und schütteln sie, wie man den Lulaw, den Palmenzweig schüttelt.

Die Zweige entfalten sich gleich Fächern, und bald ist die Hütte wie ein Kopf mit einem Hut bedeckt. Sie steht mitten im Hof, verlockend, einladend, wie ein Häuschen im Wald.

Sie ist so dicht mit Zweigen gedeckt, daß kein Stern vom Himmel hineinleuchten kann. Drinnen herrscht kühle Dämmerung. Nur durch die Ritzen der Bretterwände dringen ein paar Lichtstrahlen herein.

Ein langer Tisch und Bänke werden mitten in die Hütte gestellt. Einen Bretterboden gibt es nicht, nur Erde, und die Beine von Tisch und Bänken stecken in dem feuchten Grund, der an unseren Schuhen klebt.

Wir bleiben in der Hütte, stellen uns vor, auf dem Land zu sein. Wir strecken uns auf den Bänken aus, verfolgen die hereindringenden tanzenden Lichtflecke, haschen nach ihnen und schauen mit erhobenem Kopf auf das Dach aus Tannenzweigen, als wäre es der Himmel. Wir zucken zusammen, wenn ein Tautropfen auf uns niederfällt. Und um alle wissen zu lassen, daß die Hütte fertig ist, daß der Feiertag schon begonnen hat, stimmen wir ein Lied an.

An den Fenstern rings um den Hof erscheinen Köpfe. "Sieh mal, die Laubhütte ist schon fertig!"

Auf einmal ruft jemand: "Kinder, der Synagogendiener hat den Lulaw gebracht!"

Wir stürzen ins Haus zurück. Es hat sich inzwischen auch verändert. Es duftet nach Weidenzweigen. Der Fußboden ist mit ihren kleinen Blättern bestreut, und ihr Duft verbreitet sich im ganzen Haus. Aber wo ist denn der Palmenzweig?

Da steht er, in einer Fensternische, einsam an die Wand gelehnt, den Kopf zur Seite geneigt, als wolle er durch die Scheiben blicken, um zu sehen, ob sich dort draußen nicht ein Stück Himmel seiner Heimat zeigt. Seine langen, schmalen Blätter sind dicht aneinandergepreßt. Ich gehe zu dem Palmenzweig. Ich habe Angst, ihn zu berühren. Seine Spitzen sind scharf wie die Spitze eines Degens.

"Laßt mich den Lulaw schütteln!" bitte ich meine Brüder.

"Noch vor Vater?"

"Ich möchte nur sehen, ob er lebendig ist."

Der Palmenzweig zittert in meinen Händen, und ich zittere mit ihm. Er scheint von einem leichten Wind bewegt und mir ist, als stünde ich auf Israels Erde unter einem rauschenden Palmenbaum. Wie ist dieser Zweig hierhergekommen?

"Abrascha, was meinst du?" frage ich meinen Bruder. "Ist der Palmenzweig direkt aus Jerusalem gekommen? Was war er denn dort – ein Baum oder nur ein Zweig, der von einem Baum abgebrochen wurde? Wer hat ihn hierhergebracht?"

"Ist heute denn Ostern, daß du soviel fragst?"

Abrascha weiß es selbst nicht und möchte mich loswerden.

"Weißt du, ich glaube, der Palmenzweig hat sich selber aus dem Boden gerissen. Er wollte gern sehen, was in der Welt vorgeht, und deswegen ist er von daheim weggelaufen. Und eines Nachts ..." Abrascha spricht leise, als wolle er sich selbst angst machen, "und eines Nachts ist er bei uns auf der Fensterbank stehengeblieben."

Ich würde ihm gern glauben, aber ich will nicht, daß er immer recht behält.

"Aber er ist doch eben erst aus der Synagoge gebracht worden!" sage ich.

"Und was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, daß man ihn in Stroh gepackt und in eine große Holzkiste gelegt hat? Ich habe auf dem Bahnhof gesehen, daß manche Waren so befördert werden."

"Ach was! Der Palmenzweig reist nicht mit allerhand unreinen Waren zusammen! Der Rabbi würde dir eine Ohrfeige geben, wenn er hörte, wie du von dem Lulaw sprichst. Sieh ihn doch an, er ist ganz frisch und grün. In einer Kiste wäre er ja erstickt!"

Ich berühre noch einmal den Palmenzweig. Seine schmalen, glatten Blätter beben wie die Saiten einer Harfe.

Ich sage tröstend zu ihm: "Warte, lieber Palmenzweig, bald wird Vater kommen und dich in die Hand nehmen und einen Segen sprechen. Dann fühlst du dich nicht mehr so kalt und fremd bei uns."

Und wo ist der Etrog, die Zitrone?

Der gelbe Etrog liegt groß und dick wie ein Pharao auf einem weichen Bett in der silbernen Zuckerdose, in der kein Zucker mehr ist, und strömt einen feinen Duft aus wie ein König. Woher kommt der Etrog?

Da tritt Vater ins Zimmer, gefolgt von meinen Brüdern.

"Kommt, Kinder, wir wollen den Palmenzweig segnen."

Vater wirft einen Blick auf die Zitrone und auf den Palmenzweig. Er hebt den Etrog von seinem Lager und legt ihn neben den Palmwedel. Sie schmiegen sich aneinander. Sie kommen aus demselben Land.

Vater, mit gesenktem Blick, spricht den Segen so laut, als schwöre er einen Eid. Er hebt den Palmenzweig in die Höhe, senkt ihn, drückt ihn ans Herz, hält ihn von sich weg, neigt ihn nach rechts und nach links.

Der Palmwedel regt sich, zittert, schüttelt den Kopf. Seine schmalen Blätter strecken sich aus wie betende Hände.

Als Vater verstummt, schließen sich die zitternden Blätter wieder.

"Da, willst du jetzt den Lulaw segnen?" Vater reicht ihn dem ältesten Sohn.

Der Palmenzweig geht von Hand zu Hand. Alle sechs Brüder stürzen sich auf ihn, schütteln ihn, gehen damit aufeinander los wie mit einem Degen, knicken ihn. Dann wird der halb tote Zweig wieder in die Fensternische gestellt.

Die Laubhütte ist bereit. Sie muß einen ganzen Tag warten, bis man zum Essen hineingeht. Unterdessen hat sie sich mit Tannenduft vollgesogen, die Wände und die feuchte Erde unter den Füßen sind trocken geworden.

Gegen Abend ziehen Vater und meine Brüder die Mäntel an, als wollten sie ausgehen. Sie gehen zum Essen in die Laubhütte.

Weder Mama noch ich, noch Chawa dürfen hinein. Vor der Tür der Hütte stehend, hören wir Vater den Kiddusch sprechen, den Segen über den Wein.

Die Speisen werden durch eine kleine Öffnung wie durch ein Loch hineingereicht, ein Teller nach dem anderen. Meine Brüder könnten wirklich glauben, das Essen käme unmittelbar vom Himmel.

Denken sie denn gar nicht an Mama und mich? Wir beide sind ganz allein im Haus. Es ist so leer und kalt, als hätte es weder Fenster noch Türen. Ich sitze mit Mama am Tisch und esse ohne rechten Appetit.

"Mama, warum müssen wir zwei mit den Dienstboten hierbleiben, als wären wir auch Dienstboten? Was ist das denn für ein Fest, Mama?" Ich lasse ihr keine Ruhe: "Warum essen sie denn von uns getrennt?"

"Ach, mein Kleines, sie sind doch Männer!" sagt Mama traurig und würgt ein Stück kaltes Fleisch hinunter.

Plötzlich ist die ganze Küche in Aufruhr. Chawa und Sascha laufen zwischen dem Haus und der Hütte hin und her.

"Es regnet!"

"Bringt ihnen schnell das übrige Essen hinaus, damit sie das Schlußgebet sagen können!" ruft Mama aufgeregt.

Ich bin recht befriedigt, daß es mitten beim Abendessen zu regnen anfängt. Für Mama und mich ist das Laubhüttenfest ein so trauriger Feiertag.

Da - ein Donnerschlag! Ich schaue hinaus, ob die Hütte nicht auseinandergefallen ist. Es gießt, alles ist überschwemmt, im Nu ist die ganze Hütte durchnäßt. Wasser rinnt auf den Tisch, fließt von den Wänden, strömt aus den Zweigen. Chawa und Sascha tragen bedeckte Teller hinaus und der Regen trommelt darauf, als wolle er die schützende Decke durchlöchern.

Im Rauschen des Regens höre ich Vater den Segen sprechen, die hohen Stimmen meiner Brüder fallen ein. Dann läuft einer nach dem anderen mit hochgeschlagenem Kragen aus der Laubhütte hinaus. Wir schauen sie an, als hätten wir sie lange nicht mehr gesehen. Sie stürmen ins Haus herein, als kämen sie aus einer anderen Welt.

 

Einige Tage sind vergangen. Die Laubhütte wird auseinandergenommen. Ein Brett ums andere wird weggetragen, die Tannenzweige liegen zerschlagen auf der Erde. Der Hof ist voller Tannennadeln.

Die Laubhütte ist verschwunden, als wäre sie nie dagewesen. Der Palmenzweig wird von der Fensterbank genommen.

"Sieh nur, was aus ihm geworden ist!" sagen meine Brüder lachend. "Er ist ganz dürr und vertrocknet! Wie ein zahnloser Greis!"

"Flechtet mir etwas daraus", bitte ich sie, "ein Spielzeug, ein Körbchen, irgend etwas!"

Mein Bruder Aaron macht sich gleich an die Arbeit. Er hat lange, flinke Finger. Er löst ein Blatt nach dem anderen vom Stengel. Jedes Blatt pfeift leise und biegt sich. Aarons Finger bewegen sich rasch, schneiden schmale Streifen, flechten Zöpfe, und gleich ist es fertig! Ein Körbchen, ein kleiner Trog, ein Tischchen, ein Stuhl. Von dem hohen Palmenzweig bleibt nichts als ein gelber Stengel.

Den Etrog haben wir ganz vergessen. Die Köchin hat ihn in siedendes Wasser geworfen, lebendig gebrüht, und er, der Dicke, Königliche, hat sich in ein bißchen klebrigen Saft auf einem kleinen Teller verwandelt.

Mir ist schwer ums Herz. Die Feiertage sind zu Ende.

Hoffentlich kommt jetzt bald das Thora-Fest, an dem, so scheint mir, immer die ganze Stadt bei uns zu Gast ist.

Quelle: Bella Chagall, Brennende Lichter, Verlag Rowohlt, 1967